NEUHEITEN: Perle der Insel


Perle der Insel -


„Was soll das?! Ich bin eine Prinzessin und … und …“

Aufsässig warf Vory ihr schulterlanges, sonnenblondes Haar zurück und funkelte den Anführer der sechs Krieger böse an. Dass er einen Speer in seinen kräftigen Händen hielt, beeindruckte sie nicht im Geringsten. Zuhause in ihrem Palast bekam sie jeden Tag bessere und schärfere zu sehen. Auch wenn diese nur für Repräsentationszwecke an der Wand hingen.

„Vory, vielleicht sollten wir …“ Ihre Freundin Chelle wich ängstlich vor den Knochenklingen der dunkelhäutigen Männer zurück. Ihre andere Freundin Kolandra dagegen hielt ihren Kopf stolz erhoben, als wären diese Wilden weit unter der Würde einer kaiserlichen Palastzofe und es nicht wert, von ihr beachtet zu werden.

Vorys Protest verstummte noch in ihrer Kehle. Die Speere waren offenbar nicht das Einzige, was hart, lang und spitz in die Höhe zeigte. Unsicher sahen sich auch Chelle und Kolandra plötzlich an und konnten nur sehr schwer ihre Blicke von den prall ausgebeulten Lendenschürzen dieser wilden Gesellen loseisen. Eines war jedenfalls sofort klar – die Schwengel der Kerle mussten gewaltig sein.

Und zu allem Überfluss waren ihre eigenen Kleider durchnässt. Man sah alles. Wirklich ALLES. Sogar, dass ihr Höschen eine andere Farbe als ihr Kleid hatte. Und dass Chelle gar kein Höschen trug. Ihre beste Freundin errötete bis über beide Ohren.

Die Männer kamen näher. Allem Anschein nach verständigten sie sich mit gutturalen Lauten – einem Fiepen und Gurgeln, das so fremd klang, dass unmöglich Menschen das alles ersonnen haben konnten. Ihre Blicke sprachen jedoch Bände. Eine Frage schien zu sein, wie sie drei wohl ausgezogen aussahen.

Unruhig seufzte Vory und begann nervös auf ihrer Unterlippe zu kauen. Wie sollte sie ihnen klarmachen, dass sie Schiffbrüchige waren? Auf dieser Insel gestrandet?

„Sagt mal … Versteht ihr überhaupt unsere Sprache?“

Der Anführer der wilden Schar ließ sich zu einem Lächeln hinreißen und kam näher. Unheimlich weiß strahlten seine Zähne im grellen Sonnenlicht. „Na klar, wir sind ja nicht von gestern. Oder hältst du uns für blöd?“

Was?!

„Gratuliere“, triumphierte er. „Ihr wurdet soeben von uns erfolgreich gefangen genommen.“

Vory riss die Augen auf.

Der Kerl packte sie und warf sie sich über die Schulter, als wäre sie nur eine Sache, über die er fortan bestimmen würde. Sie trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf seinen breiten, kräftigen Rücken ein, doch er lachte und lachte nur.

Tränen der Wut spritzten Vory aus den Augen.

Das war doch geradezu grotesk! Wie, bei allen Heiligen, hatte sie nur in diese missliche Lage geraten können?

* * *

Vierundzwanzig Stunden zuvor …

„Können wir denn nicht noch etwas näher an die Insel da vorne heransegeln, Kapitän?“ Vory spielte mit ihren blonden Locken, lehnte sich provozierend gegen das Schanzkleid des mächtigen Trimarans „Sehnsucht“ und streckte ihren Po nach hinten.

Dass sich die dünne, blaue Seide ihres Kleids auf ihren breiten Pobacken spannte, entging nicht mal dem beschäftigtsten Seemann. Irgendwie fand sie es putzig, dass sie schon die ganze Zeit jedem Mann an Bord den Kopf verdrehte.

Tja, sie war vielleicht noch jungfräulich, aber sicher nicht unschuldig. Und auch Prinzessinnen hatten Bedürfnisse – und eine nicht zu unterschätzende Portion Fantasie!

„Dorthin zu segeln, wäre sooo romantisch! All die Palmen und Felsen … Dazu das glitzernde Meer …“

„Dort hinten beginnt das ‚Dreieck der Stürme’, Prinzessin“, räusperte sich der Kapitän und fuhr sich mit seiner rauen Hand über seine unrasierten Bartstoppeln. Die grauen Härchen an seinen Schläfen sprachen Vory mehr an, als sie hätten sollen und dürfen. Verstohlen sah sie ihm in die Augen. Einer der Seemänner hatte gleich zu Beginn der Überfahrt gemeint, dass kein Rock jemals vor ihm sicher wäre und sie fragte sich, ob das stimmte.

„Dort wollt Ihr besser nicht hin, Herrin“, entschied er und ließ den Blick seiner Augen bis zum Horizont wandern. „Man nennt diesen Ort auch ‚Friedhof der Schiffe’. Da gibt es gefährliche Untiefen und Riffe. Nichts davon ist jemals auf einer Karte verzeichnet worden. Glaubt mir – die sicherste Route zu Eurem Verlobten ist diese hier. Auch wenn sie länger ist.“

Vory presste die Lippen zusammen und seufzte.

Beinahe hatte sie vergessen, dass sie verlobt war und auf dem Weg zu ihrem Bräutigam. Dass dieses Schiff sie in den sprichwörtlichen Hafen der Ehe einlaufen lassen würde.

„Ach … bitte“, quengelte sie und blinzelte ihn mit ihren großen, blauen Augen an.

„Ich habe Euch Euren Wunsch gewährt und bin schon viel näher heran, als es vertretbar ist.“ Es war ihm anzusehen, dass er die Entscheidung bereits bereute. Obwohl sie nicht im Geringsten verstand warum. Es war doch alles wunderbar. Strahlender Sonnenschein. Ruhige See. Alles bestens.

„Schwarzes Segel am Horizont!!“

Was?

Der Ruf vom Ausguck hoch über ihr wurde sofort weitergegeben. Die Mannschaft, die eben noch gemächlich ihren Dienst verrichtet hatte, setzte sich fast panisch in Bewegung. Der Kapitän unterdrückte einen Fluch, bellte eine Unmenge an Befehlen und jeder noch so kleine Fetzen Segel wurde gesetzt.

„Ihr solltet unter Deck und in eure Kabine gehen, Prinzessin“, knurrte er.

„W-Wieso? Was ist passiert?“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte das fremde Schiff auszumachen. Aber offenbar suchte sie es am völlig falschen Fleck.

Kolandra und Chelle eilten kreidebleich heran.

„Vory, komm schon“, drängelte Chelle. „Wir sollten tun, was der Kapitän sagt.“

„Ja“, nickte Kolandra beflissen. „Das ist jetzt Männersache.“ Sie war mehr eine Freundin als eine Zofe.

„Aber wieso denn?“, schüttelte Vory den Kopf. „Wer ist denn da draußen?“

„Piraten“, rief ein vorbeieilender Matrose.

„Piraten?!“ Vory sah ihm aufgekratzt hinterher. Wie aufregend war das denn?!

Die mächtige „Sehnsucht“ pflügte durch die Wellen. Die drei Bugspitzen schoben sich aus dem Wasser und stampften zurück in die salzigen Fluten. Die Gischt spritzte auf das Vordeck. Selbst bis hierher konnte sie das Nass auf ihren Wangen spüren.

Jetzt sah sie das fremde Schiff auch. Sie lief auf die andere Seite, um es besser beobachten zu können.

Tatsächlich. Ein schwarzes Segel. Aber es war viel zu weit weg, um bedrohlich zu wirken. Das brauchte ja Tage, bis es hier bei ihnen war.

„Ihr solltet wirklich unter Deck gehen, Herrin“, meinte einer der Männer besorgt.

„Ja“, nickte Vory. Das alles begann sie ohnehin allmählich zu langweilen. Sie hatte gedacht, dass muskelbepackte Kerle mit nacktem Oberkörper an Deck schwingen und … Dass Waffen abgefeuert und Säbel schrillend aneinander klirren würden. Aber die Dramatik hinter all dem hier entzog sich ihr völlig. Was soll’s?! Wahrscheinlich würde ihr in der Kabine wieder schlecht werden, aber dort hatte sie wenigstens ihre Ruhe und konnte etwas schlafen. Oder lesen. Oder …

Einer der Matrosen führte sie zurück in ihre Unterkunft. Dort war es viel zu eng und zu stickig. Außerdem wurde die See unruhiger und zunehmend türmten sich graue Wolken am Himmel.

Nach schier ewigen Stunden des Schauens fielen ihr die Augen zu … Und als sie sie nach wenig erholsamem Schlaf wieder aufschlug, war jeder Zoll ihres Körpers in Schweiß gebadet und Blitz und Donner wechselten sich vor einem wie mit Silbermarmor getäfelten Nachthimmel ab.

„Was … Was ist passiert?“

Chelle seufzte. „Das andere Schiff schnitt uns den Weg ab. Der Kapitän entschied, Kurs in das ‚Dreieck der Stürme’ zu nehmen.“

„Hinein zwischen all die Untiefen und Riffe?!“ Vorys Stimme klang viel zu schrill. Selbst in ihren Ohren.

Chelle und Kolandra nickten besorgt.

„Bei diesem Unwetter?!“

Chelle faltete die Hände, als wollte sie beten. „Einer der Matrosen sagte, sie hätten alle entbehrlichen Segel gerefft und würden jetzt mit größtmöglicher Vorsicht durch die Riffe und Korallenbänke hindurchnavigieren.“

Wie um ihre Worte Lügen zu strafen, hob eine Welle die „Sehnsucht“ an und alles, was nicht niet- und nagelfest war, flog durch die Kabine.

„Die Piraten könnten unmöglich verrückt genug sein, uns zu folgen“, nickte Chelle zitternd. „Sagen sie zumindest …“

„Das sind allesamt Feiglinge und Mörder“, setzte Kolandra noch eines drauf.

Die nächste Welle brachte den Nachttopf zum Fliegen und sein Inhalt ergoss sich aufs Vorys Kleid. Genau auf Höhe ihres Bauchnabels.

Na fabelhaft!!

„Mir reicht’s! Ich bin raus hier.“

„Aber, Vory“, riefen Kolandra und Chelle ihr hinterher.

Wie von Sinnen kämpfte Vory ihre Übelkeit nieder, enterte die Holzstufen hinauf aufs Oberdeck und was sie dort zu sehen bekam …

Wellen peitschten über das riesige Deck. Seemänner wurden von ihnen mitgerissen und gegen die Wanten geschleudert. Zerrissene Segel flatterten ziellos im Sturm und Leinen hingen zerfetzt von der Takelage. Doch am stärksten zog der wirbelnde Wolkenwall ihre Aufmerksamkeit in seinen Bann. Ein monströses Etwas, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Blitze zuckten hin und her und verwandelten die Wolkenmasse in ein lebendes, atmendes Wesen, das alles zu verschlingen drohte.

Schwerer Gewitterregen prasselte Vory ins Gesicht. Binnen eines Augenblicks war sie bis auf die Knochen durchnässt.

„Was tut Ihr hier, Herrin?!“, brüllte einer der Matrosen. Eine Welle erwischte sie. Er bekam sie gerade noch an ihrer Taille zu fassen. „Ihr solltet doch in Eurer Kabine bleiben.“

Da wieder runter?? War er verrückt?!

Ein Krachen donnerte über das Deck und die „Sehnsucht“ erhob sich in die Luft. Fetzte Vory und den Seemann von den Beinen.

„Was zum …“

„Der Backbord-Schwimmkörper ist gebrochen! Das Ruderblatt ist hinüber.“

Das Schiff krängte mit schwerer Schlagseite in den nachtschwarzen Wellen. Ein Riff ragte wie der faule Zahn eines Riesen über eine Mannslänge hoch aus der silbern schäumenden Gischt und schrammte kreischend am Rumpf entlang.

„Wir sinken!!!“, brüllte ein Seemann vom vorderen Laderaum. „Wassereinbruch Steuerbord.“

„Wir sinken?! Aber … Aber … So tut doch etwas!!“ Sie schrie dem Matrosen ins Ohr. „Chelle und Kolandra sind noch unten.“

Der Seemann packte sie am Arm und zerrte sie zu einem der Rettungsboote. Dort sah sie ihm zu, wie er unter Deck lief. Zwei Matrosen halfen ihr ins Boot und kurbelten wie von Sinnen an der Winde.

„Und wer soll rudern??“, schrie sie sich die Stimmbänder heiser. Die Seemänner hoben Chelle und Kolandra zu ihr ins Beiboot. Die beiden sahen aus, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Das kleine Boot schwang über das Schanzkleid und rasselte ungebremst in die Tiefe.

Vory und die anderen schrien panisch auf. Viel zu hart platschten sie auf das stürmische Wasser.

„Und wer hilft uns, den verdammten Kahn zu steuern?“ Vorys Ruf verhallte ungehört im heulenden Sturm. Die Seemänner waren nicht mehr zu sehen. Sie hatten nur noch schnell die Leinen losgemacht und …

Das Boot trieb davon.

„Wir werden alle sterben“, rief Chelle und Vory war versucht, ihr recht zu geben. Die Wellen hoben das Beiboot an und beinahe flog sie von der Ruderbank. Kolandra griff nach einem der beiden Paddel, doch es wurde ihr wie von einer Riesenfaust aus der Hand gerissen. Zwischen gurgelnden und schmatzenden Riffen hindurch drehte sich das Boot um die eigene Achse. Führerlos und jeglicher Kontrolle beraubt. Vorys einziger Gedanke war, sich festzuhalten.

Die „Sehnsucht“ war nirgends mehr zu sehen. Wahrscheinlich war sie schon gesunken. So schnell?!

Kolandra und Chelle bibberten und erst jetzt fiel Vory auf, dass sie bereits die längste Zeit erbärmlich fror.

Wohin die Wellen das Boot wohl trieben?

„Hauptsache, wir knallen nirgends dagegen.“ Vory war versucht zu lächeln, doch das Schicksal rächte sich sofort.

Eine Welle hob das Beiboot an und oben und unten wechselten die Seiten. Mit einem Schrei sah Vory es kommen. Das Boot kippte endgültig über und …

„Festhalten!“

Vory klammerte sich verzweifelt an ein Tau.

Die nächste Welle schlug über ihnen zusammen.

Bei allen Schutzheiligen.

Das war das Ende …

* * *

Als Vory blinzelnd die Augen öffnete, schmeckte sie feinen, salzigen Sand auf ihren Lippen und es brannte vom Himmel. Nur noch dunkel erinnerte sie sich, dass sie unter Blitz und Donner auf allen vieren den Strand hinaufgekrochen war. Das Beiboot war in zwei Teile zerbrochen und was davon übrig war, dümpelte Bug nach oben im Wasser.

„Chelle? Kolandra?“

Vory versuchte den Kopf zu heben.

„Hier drüben sind wir. Was schreist du so?“, rief Kolandra.

„Ich habe einen Pantoffel verloren“, ergänzte Chelle.

Ein Lächeln erfasste Vorys ausgedörrte Lippen. Wenigstens hatten die beiden ihren Sinn für Humor nicht eingebüßt. Dann konnte es nicht so schlecht um sie stehen, oder?

„Was ist mit der ‚Sehnsucht’?“, wollte Chelle wissen. „Ist sie gesunken?“

Vory stemmte sich hoch und kam auf alle viere. „Wir werden es herausfinden, schätze ich.“ Sie suchte den Horizont ab. Aber kein Schiff. Nur endloses Wasser und ein paar vorgelagerte, kleine Inseln. Nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen. Seltsam. Der Sturm konnte sich doch nicht dermaßen schnell verzogen haben, oder?

„Wir müssen Trinkwasser finden.“ Sie nickte in Richtung des alles verschlingenden, smaragdgrünen Palmendschungels den Strand hinauf. „Sicher gibt es irgendwo auch Früchte, die wir essen können.“

„Und dazu jede Menge Viecher, die es gar nicht erwarten können, über uns herzufallen“, rümpfte Chelle ihr kleines Näschen und strich ihr dunkelbraunes Haar nach hinten.

„Wie lange wird es wohl dauern, bis dein Vater uns sucht, Vory? Ich meine …“ Kolandra seufzte.

„Ich denke mal, spätestens, wenn ich nicht pünktlich zu meiner Hochzeit erscheine, wird jemand reagieren.“

„Also … ein paar Wochen“, fasste Kolandra zusammen und sah sich missmutig um.

Vory atmete tief durch. Wenn sie kein Wasser und nichts zu essen fanden, hielten sie nicht einmal ein paar Tage durch.

„Ich würde sagen …“ Vory stand auf und klopfte sich den Sand von der Seide ihres pitschnassen Kleids. „Umso früher wir Wasser finden, desto …“

Sie starrte direkt auf die geschliffene Knochenklinge eines Speers und der Mann, der ihn ihr ins Gesicht hielt, schien kein Problem damit zu haben, ihr ein drittes Nasenloch zu stechen. Wo zum Teufel war er hergekommen?! Er und seine Handvoll bärtiger Kumpane trieben sie zusammen und kreisten sie ein. Riefen etwas in einer fremden, fiependen Sprache. Ein jeder von ihnen groß und kräftig. Und kein Einziger trug mehr als ein Stück grobes Leder um die Lenden. Sie waren dunkel. Viel dunkler als Kolandra. Auf animalische Weise wild. Kunstvolle Tätowierungen schmückten ihre stattlichen Brustmuskeln und Oberarme. Dieselben Zeichen und Symbole fanden sich auch auf den Stirnbändern, die ihre kurzen, streng nach hinten gekämmten, schwarzen Haare im Zaum hielten. Ein heißes Feuer loderte in ihren unglaublich blauen Augen, die so überhaupt nicht zu ihrer Hautfarbe passten.

Amüsiert fasste der Anführer der Bande Vory an den Arsch.

„Was soll denn das?!“, begehrte sie auf und holte zu einer Ohrfeige aus, die aber hoffnungslos ins Leere ging. Das schien ihn nur noch mehr zu amüsieren. Vorys Gezeter ignorierte er gekonnt. Verflucht. Er sah besser aus, als gut für ihn war, und war sicher keinen einzigen Tag älter als sie und ihre Freundinnen. Attraktives Gesicht, Wimpern, die beinahe zu hübsch für einen Mann waren und dazu sinnlich geschwungene Lippen. Er hätte ihr bestimmt gehörig den Kopf verdreht, wäre er im Palast in edlen Seidenkleidern an ihr vorbeigegangen.

Er spießte ihr Kleid auf und zog so plötzlich an, dass es bis hinauf zum Schritt zerriss. Ihr hauchdünnes Höschen blitzte klatschnass hervor und nichts – aber auch gar nichts – von ihrem Schoß war noch ein Geheimnis für die Männer.

„Was wolltest du vorhin sagen?“, höhnte Kolandra mit Galgenhumor. Einer der Wilden hatte ihr das Oberteil zerfetzt. Sie wehrte sich und ihre Brüste wippten zügellos auf und ab.

„Dass wir in der Scheiße sitzen“, kam es Vory über die Zunge.

„Das waren aber jetzt sehr undamenhafte Worte aus dem Munde einer Prinzessin!“

Vory presste hart die Lippen zusammen. Sie hätte auch noch undamenhaftere Worte gefunden, wenn dieser gut aussehende Kerl sie nicht plötzlich gepackt, mit einem dummen Spruch über die Schulter geworfen und in den Dschungel verschleppt hätte …

2

Kopfüber von den breiten Schultern dieses Hünen hängend ließ es sich nur schwer beurteilen, aber nach einem schier endlosen Fußmarsch waren sie plötzlich von johlenden Kindern und Erwachsenen umringt und der Dschungel wich dem Inneren einer gewaltigen Höhle und dem hart getretenen Boden eines Dorfplatzes zwischen soliden Holzhütten. Sie versuchte den Kopf zu heben, doch es war vergebene Liebesmüh. Nackte Füße in Bewegung, geflochtene Körbe mit Fisch und Früchten und Holzpfeiler, die die Hütten trugen, waren alles, was sie zu sehen bekam. Musik erklang aus verschiedenen Richtungen, teils vertraut teils so fremdartig wie die fernen Länder, denen die Klänge offenbar entstammten.

Der Kerl erwiderte selbstbewusst die begrüßenden Fieplaute in dieser seltsamen Gurgelsprache und stellte sie schließlich wie einen nassen Mehlsack ab. An den Händen gefesselt und wie Haustiere angeleint stolperten Chelle und Kolandra zu ihr.

Vory blinzelte. Trotz des frühen Morgens war es hier in der Höhle dunkel, als bräche gerade die Nacht herein, und es war angenehm kühl. Das … Das war eine richtige Siedlung. Zwischen den kreisförmig angeordneten Holzhütten hatten sich die Dorfbewohner um eine blättergedeckte Tafel versammelt. Darauf türmten sich Platten mit Obst und anderen fremdartigen Köstlichkeiten. Dazu Fisch in allen Variationen und etwas, das wie ein Brei aus gestampften Getreideflocken aussah. Erst jetzt wurde Vory bewusst, wie hungrig sie war. Und Chelle und Kolandra ging es nicht viel besser. Seit gestern hatten sie nichts mehr gegessen.

„Ahhh … Frühstück“, nickte Chelle und leckte sich über die trockenen Lippen.

Die Spießgesellen umringten sie noch immer und hielten ihre Speere abwartend vor sich, als rechneten sie jeden Moment mit einem verzweifelten Fluchtversuch. Doch da hätten sie beruhigt sein können. Zu fliehen, war im Augenblick das Letzte, woran Vory dachte. Viel wichtiger war es, dass sie sich mit den Menschen hier verständigten. Erwartungsvoll glotzten diese sie an und stießen ihre eigentümlichen Fieplaute aus, bis der junge Kerl, der sie vorhin über die Schulter geworfen und entführt hatte, gebieterisch die Hand hob und etwas in der gutturalen Sprache rief. Sofort verstummten alle. Niemand sprach mehr, die Musik erstarb und aller Augen waren jetzt endgültig auf sie gerichtet. Stärker denn je wurde Vory bewusst, dass ihr Kleid noch immer zerrissen war und auf unerklärliche Weise immer höher rutschte. Dass jeder ihr zwischen die Beine gaffen und ihr auf den Schritt glotzen konnte. Ihr wurde heiß.

Ein kräftiger Mann mit dem zähnebewehrten Knochenmaul eines riesigen Raubfisches in seinem Haar starrte sie von seinem Thron über die Tafel an Köstlichkeiten hinweg an. Alle erwiesen ihm Respekt. Keiner trug so viele Tätowierungen wie er und Vory hatte plötzlich das Gefühl, dass ihr die Luft zum Atmen fehlte. Von ihm ging eine Strenge und Rücksichtslosigkeit aus, der sie sich nicht entziehen konnte. Ein jeder von den Kriegern hielt den Blick gesenkt, obwohl er sichtlich älter und etwas in die Jahre gekommen war, und dennoch schien er es mit jedem von ihnen aufnehmen zu können. Jederzeit. Vory fielen die leicht angegrauten Schläfen sowie die weißen Härchen seines Vollbartes auf und unwillkürlich hielt sie den Atem an. Gedankenverloren kaute sie auf ihrer Unterlippe.

„Wohl der große Häuptling“, kommentierte Chelle unnötigerweise und ein bisschen zu vollmundig. Sofort erntete sie böse Blicke. „Entschuldigung“, murmelte sie kleinlaut.

Der Häuptling winkte sie gebieterisch mit Zeige- und Mittelfinger heran und Vory wurde mit jedem Schritt mulmiger zumute. Mit den Händen versuchte sie ihren Schoß zu bedecken, aber das sah einfach nur lächerlich aus. Als hätte sie verlernt zu gehen.

Unsicher räusperte sie sich. Diese Menschen hier … Sie mussten doch ihre Sprache verstehen. Der junge Kerl hatte vorhin doch geantwortet. Und sie hatte jedes Wort von ihm verstanden. Das konnte sie sich doch nicht nur eingebildet haben!

Eingehend musterte der Häuptling eine jede von ihnen von oben bis unten und erst jetzt sah Vory es …

Bei allen Schutzheiligen!

Er drehte einen blanken Schädel zwischen den Fingern seiner linken Hand. Den Totenkopf eines Menschen!

Wild gestikulierend und kehlige Laute ausstoßend deutete er mit dem Schädel auf sie. Und der junge Krieger antwortete.

„Bei allen Mächten der Finsternis … D-Das sind Menschenfresser.“ Chelles Stimme überschlug sich.

Die zwei verfielen in einen immer hitzigeren Wortwechsel. Der Jüngere schüttelte den Kopf, doch der Alte behielt die Oberhand. Schließlich verstummten beide und eisiges Schweigen griff um sich.

„Was … Was wird hier gespielt?!“, wurde es Vory zu dumm. „Ich möchte endlich wissen, was hier los ist.“

Alle Dorfbewohner sahen sie erschrocken an. Niemand schien es für möglich gehalten zu haben, dass sie dermaßen laut werden könnte.

„Ich habe gesprochen“, knurrte der Häuptling und schlug mit dem Schädel auf die breite Lehne seines Throns. So fest, dass ein Zahn aus dem Oberkiefer brach und davongeschleudert wurde.

„Er versteht uns“, kroch es Vory über die Lippen. „Er versteht uns schon die ganze Zeit. Sie alle tun das.“

Chelle und Kolandra nickten fassungslos.

„Still“, zischte der junge Krieger und stieß sie mit dem Ellenbogen an.

„Aber …“ Vory schüttelte den Kopf und sah ihn an.

„Ich habe euch Fürst Korscharl geschenkt“, knurrte er gefährlich leise.

„Geschenkt?!“, entfuhr es Vory.

„Alles auf den ‚Inseln des Sturms’ gehört dem Fürsten. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind … Ich habe ihm nur gegeben, was ihm zustand.“

Das … Das war doch ungeheuerlich! Und was hieß hier „Fürst“?! Das war ein Wilder!

„Dich wollte ich für mich selbst. Er hat jedoch abgelehnt. Er sagte, du gehörst allen, die er für dich bestimmt.“

„Was?!“ Das … Das konnte doch nur ein Scherz sein!!

„Ruhe!“, fletschte er und schüttelte sie. „Frauen haben hier nichts zu sagen. Sei lieber froh, dass er dich nicht ins Meer hinausschickt, um dich den Stürmen zu opfern.“

„Opfern?!“, schrillte jetzt auch Kolandra. Chelle war knochenbleich im Gesicht geworden.

„Ich protestiere aufs Schärfste“, rief Vory und funkelte ihren Peiniger an. „Ich bin Prinzessin Voriassa aus den Marmorstädten von jenseits des Ozeans und verlange umgehend standesgemäß behandelt zu werden.“

Der Fürst starrte sie belustigt von seinem Thron aus an und biss von einem harten fleischigen Ding ab, das sehr an eine Bitterobst-Frucht erinnerte.

„Bitte“, hob Vory flehend die Hand. „Ich bin verlobt und werde bald heiraten … Wir wurden von Piraten verfolgt. Wenn ihr uns helft, wird sich die Krone über alle Maßen erkenntlich zeigen.“

„So?“, fragte der Fürst und spuckte ihr den Kern der Bitterobst-Frucht vor die Füße. „Wo sind denn die Schiffe der Krone? Ich sehe keine.“

Vory schluckte. Die Worte des Kapitäns kamen ihr wieder in den Sinn. Man nennt diesen Ort auch „Friedhof der Schiffe“. Da gibt es gefährliche Untiefen und Riffe. Nichts davon ist jemals auf einer Karte verzeichnet worden …

Aber das bedeutete doch nicht, dass man sie nicht suchen würde. Das DURFTE es nicht bedeuten!

„Ihr dürft nur auf meiner Insel bleiben, weil ich es erlaube.“

Vory sah zu dem jungen Krieger an ihrer Seite. Er hielt den Blick starr zu Boden gerichtet. Jeder Muskel seines Gesichts arbeitete.

„Und nur, wenn ihr einen Wert für uns habt“, ergänzte der Alte.

Einen Wert?

„Also! Was könnt ihr?“

Können?!

„Und verschont mich bitte mit Kochen und Tanzen. Oder dem, was ihr Konversation nennt. Tratschweiber gibt es auf meiner Insel schon mehr als genug.“ Er ließ sich von einem nackten Mädchen ein Trinkhorn mit einer schäumenden Flüssigkeit reichen, das er nahezu in einem Zug leerte. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schaum von den Lippen.

„Also … Ich …“, hob Vory an. Ihr fiel nicht das Geringste ein. Sie heiratete bald, weil … es das Beste für das Königreich war. Weil die Krone es befahl. Sie beherrschte die Diplomatie und das höfische Zeremoniell und …

„Wir werden euch sicherlich dienen können, o Fürst“, versicherte Kolandra und verneigte sich tief. Ihre nackten, knackigen Brüste wippten dabei enthusiastisch auf und ab.

Ein wissendes Lächeln verbog die Lippen des Fürsten nach oben. „Davon bin ich überzeugt. Und was kannst du?“ Er zeigte mit dem Schädel in Chelles Richtung.

„Ich?!“ Chelle errötete. „Oh … Ich weiß, wie man eine Nähnadel benutzt … und wie man nur mit Lippen und Zunge einen Mann im Bett zum Sprechen bringt – falls das hilfreich ist.“

Vory klappte das Kinn herunter. Dem Fürsten gefiel ihr „Talent“ ausnehmend gut.

„Und du – Prinzessin?“ Der Fürst dehnte das Wort „Prinzessin“ bis an die Grenze seiner Belastbarkeit. Ihr Rang bedeutete hier in dieser Höhle und auf dieser Insel gar nichts. Tief sah er ihr in die Augen.

Vory schluckte.

„Was kannst du?“

Sie biss sich auf die Unterlippe. So fest, dass sie eigentlich hätte bluten müssen.

„Ich … Ich werde alles tun, was von mir verlangt wird.“ Alles in ihr sträubte sich, das zu sagen.

„Ha!“, lachte der Alte. „Alles?!“

„Alles“, nickte Vory dumpf.

„Das wollen wir sehen“, klatschte der Alte begeistert in die Hände und rieb sich die Handflächen. „Zieht euch aus!“