NEUHEITEN: Die Zuchtstuten des Gutshofes


Die Zuchtstuten des Gutshofes -


DAS HAUS IN DER DUNKLEN STRASSE

„Dass wir hier auf eigene Faust ermitteln, Schatz, ist nur mit sehr viel Wohlwollen als Graubereich anzusehen“, raunte Maddox und gähnte.

Addison schüttelte den Kopf und strich ihr halb langes, rotbraunes Haar nach hinten. Sein Blick blieb für ihren Geschmack ein wenig zu lange an ihrem Po haften und dass er sie „Schatz“ nannte, machte es nicht besser. Maddox sah total verkatert aus. Verkatert und immer noch leicht angetrunken. Wie ein Penner aus dem Park.

Die kühle Nachtluft drang in ihren dünnen Mantel. Es war schwer genug gewesen, ihn zu überreden, hierher zu kommen. Genervt seufzte sie.

„Das sagt ausgerechnet der, der mich auf die ganze Sache gebracht hat. Die beiden Mädchen, die im Sommer verschwunden sind, stammen aus anderen Staaten. Schweden und Finnland. Und damit fällt das hier sehr wohl in unseren Zuständigkeitsbereich. Vor allem, wenn es sich um einen Fall von organisiertem Verbrechen handelt.“

„Dafür gibt es keinen stichhaltigen Beweis“, spöttelte Maddox. „Deswegen hast du ja auch sicher den hiesigen Verbindungsoffizieren Bescheid gesagt, nicht wahr?!“ Das war keine Frage gewesen.

„In dem politischen Umfeld will sich von denen doch keiner die Hände schmutzig machen. Alle haben nur Angst davor, ihren bequemen Platz im System zu verlieren, wenn irgendetwas auf sie zurückfällt … Nein, es liegt jetzt an uns, herauszufinden, was passiert ist.“

Maddox kramte in seinen Taschen nach einer Zigarette und steckte sie an.

„Hast du wenigstens der Dienststelle mitgeteilt, was du vorhast, Addy?“

„Wozu?!“, zuckte Addison mit den Achseln. „Wir ermitteln doch nur. Und wie du schon sagst, noch haben wir bloß einen Verdacht und keine Ergebnisse vorzuweisen.“

„Also weiß niemand, wo wir sind.“ Maddox verzog dem Mund zu einem gewöhnungsbedürftigen Grinsen. „Und ich wollte heute doch nur meinen Rausch ausschlafen. Ach, Scheiße noch mal, Addy. Warum nur will mir das nicht gefallen?“

„Was kann es schaden, ein paar Fragen zu stellen?“

„Du bist viel zu motiviert, Addy. Das wird dich noch irgendwann mal Kopf und Kragen kosten.“

„Und du musst mal aus deiner Komfortzone, Maddox. Was ist eigentlich mit dir passiert? Du warst mal so ein guter Ermittler.“

Seine Augen wurden gefährlich schmal.

„Du weißt, was passiert ist, Addy.“

Addison presste die Lippen aufeinander. Ja, das wusste sie. Das wusste sie sogar nur zu gut. Es war eben eine seiner unglaublichen Geschichten, mit denen er sein Gejammer rechtfertigte – nur dass er diesmal nicht darüber reden wollte.

Das Schweigen wurde unerträglich.

„Vier Mädchen sind hier in den letzten zwei Jahren verschwunden, Maddox. Vier Mädchen, die jetzt vielleicht in einem dunklen Keller eingesperrt sind und hoffen, dass jemand kommt und sie rettet. Und ich will nicht die sein, die ihren Eltern erklären muss, dass die Bürokratie sie vergessen hat.“

Maddox seufzte und nickte. „Falls sie noch leben … Du kennst die Statistik.“

„In sechzig Prozent der dokumentierten Fälle geht es für weibliche Entführungsopfer schlecht aus. Vor allem, wenn Sexualstraftaten im Spiel sind.“

Addison starrte die unbeleuchtete Straße zum Anwesen hinunter. Die knorrigen, alten Äste der Bäume wiegten sich wie Spinnenbeine im Novemberwind. Über ihnen zogen rauchschwarze Wolken an der fahlen Mondsichel vorbei.

Ein Frösteln lief ihr den Rücken hinab. Die Straße entlang bis zum schmiedeeisernen Tor war es wie weit? Dreihundert Meter? Sie standen schon viel zu lange hier.

Addison sah nach hinten. Das Stadtzentrum mit seinen Hochhäusern und Glasfassaden war keine fünf Gehminuten entfernt und doch sah es hier so aus, als wären sie irgendwo im Nirgendwo gelandet, fernab einer heißen Dusche und einem halbwegs vernünftigen Frühstück. Das Anwesen lag am Fuße eines dicht bewaldeten Hügels, der sich pechschwarz in den Novembernebeln verlor.

Addison sah auf ihren Notizblock.

„Also gut … Fassen wir noch einmal zusammen. Am 31. Oktober letzten Jahres verschwinden die beiden achtzehnjährigen Mädchen Amy Meyer und Lucy Klein. Laut des Berichts der ermittelnden Beamten wurden sie vorne bei der Bushaltestelle von mehreren Jungs zuletzt gesehen. Sie fielen deswegen auf, weil sie sehr enge und sehr freizügige Halloweenkostüme trugen. Amy ging als Häschen und Lucy als Alice im Wunderland.“

Maddox stieß ein unanständiges Lachen aus.

„Knapp zwei Wochen später gingen beim Polizeinotruf drei Meldungen ein, dass hier laute Schreie gehört wurden. Doch das Ganze wurde nicht wieder verfolgt.“

Maddox nickte.

„Am 21. Dezember letzten Jahres wurde ein nacktes, verwirrtes, aber auffallend sauberes Mädchen durch die Straßen in Richtung Stadtzentrum torkeln gesehen. Da sie völlig nackt war, fiel sie natürlich auf. Passanten wählten den Notruf, und als die Einsatzkräfte eintrafen, war sie in einer Art Trance. Der behandelnde Arzt konnte nur einen Dopaminmangel feststellen – jedoch ohne die üblichen Symptome, die sonst bei einem kalten Entzug vorkommen. Das Mädchen wurde als Anja Dordinger identifiziert und konnte sich nicht mehr erinnern, was mit ihr passiert war. Manche sahen das Ganze schließlich als Hoax und Studentenulk an und hätte der ermittelnde Beamte keinen ausführlichen Bericht darüber geschrieben, es wäre wahrscheinlich in der üblichen Flut an Vorkommnissen völlig untergegangen.“

Maddox seufzte.

„Und heuer im Sommer an einem sehr heißen 6. Juli verschwanden die beiden Studentinnen Terry Palmqvist und Gwen Olafsdottir. Eine Kamera bei der Busstation filmte die beiden Backpackerinnen, wie sie den Platz in Richtung Wahrzeichen der Stadt verließen. Dort sind sie aber nie angekommen.“

„Und warum glaubst du dann, dass sie hier waren?“

„Weil sie beinahe überfahren wurden, als sie hier einen Motorradfahrer nach dem Weg fragten. Dieser war jedoch nicht von hier, hat aber ein nettes Selfie von sich und den beiden Mädchen gemacht. Eine Auswertung der GPS-Daten ergab, dass hier der Kontakt mit dem Mobilfunknetz abriss.“

„Wurde der Motorradfahrer überprüft?“

„Seine Geschichte klang glaubwürdig. Es gab keinen Grund, ihn zu verdächtigen. Außerdem hat er sich von sich aus bei den hiesigen Kollegen gemeldet, als er hörte, dass die Mädchen vermisst würden. Adresse und Telefonnummer sind bekannt. Er fuhr zu einem Motorradtreffen und blieb dort drei Tage. Dafür gibt es Zeugen.“

Maddox stieß ein Schnarchen aus. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich auf seinen Motorradklub tippen …“

Ein eisiges Gefühl beschlich Addison.

„Aber du weißt es besser, nicht wahr?!“

Maddox seufzte und zögerte – als glaubte er selbst nicht wirklich, was er gleich zu sagen hätte. „Ich … Ich habe mir alle Polizeiberichte mit vermissten Personen der letzten Jahre angesehen. Und auf was ich gestoßen bin …“ Er brach ab und wog den Kopf.

„Na was?! Sag schon.“

„Du hältst mich ja doch nur wieder für verrückt.“

Addison wand sich und trat von einem Bein aufs andere.

„Nur weil ich manche Dinge nicht erklären kann, heißt das nicht, dass ich sie für verrückt halte. Nur für … sagen wir mal wenig wahrscheinlich.“

„Gut, aber ich habe dich gewarnt. Dann mach dich mal gefasst auf diese unwahrscheinliche Geschichte. Amy und Lucy waren nicht die ersten Mädchen, die verschwunden sind. Im Schnitt passiert das in dieser Stadt alle drei, vier Jahre. Meistens sind es einzelne Mädchen. Aber oft sind es auch zwei, einmal sogar drei. Ich ging so weit zurück, wie ich Berichte finden konnte. Leider wurde beim Brand des Justizpalastes 1927 das Archiv ein Opfer der Flammen.“

„1927?“, schnaufte Addison. „Was …“

„Bei der Übersiedelung des Kriminalgerichts 1849 wurde der gesamte historische Aktenbestand entsorgt. Alles, was davor passiert ist, können wir nur schätzen … Aber wenn ich alle dokumentierten Fälle auf einer Karte eintrage, ergibt sich folgendes Bild.“ Er zog einen Computerausdruck aus einem beigen, handelsüblichen Kuvert.

Addison stockte der Atem. Alle Punkte machten einen mehr oder minder regelmäßigen Halbkreis um diese Straße hier.

„Ist jeder rote Punkt eine Frau?“

„Jeder rote Punkt ist eine junge Frau, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist, Addy. Der Punkt gibt an, wo sie zuletzt gesehen wurde.“

Addison atmete tief durch. Die meisten nur einen Steinwurf von hier entfernt.

„Und das sind nur die Frauen, von denen die Behörden wussten“, fuhr Maddox fort. „Eine Geschichte habe ich gefunden – die ist über zweihundert Jahre alt.“

„Zweihundert Jahre?! Das … Das kann nicht sein …“

„Es kommt noch besser. Ich habe ein bisschen in den lokalen Legenden gestöbert. Im Mittelalter gab es diese Sage von verschwundenen Frauen. Darin hieß es Zitat: ‚Der Teufel hätte sie geholt’. Daraufhin habe ich noch ein bisschen mehr in den Sagenbüchern recherchiert. Die Geschichten über verschwundene Frauen an diesem Ort könnten Dutzende Bände füllen.“

Addison blies die Luft aus und legte den Kopf in den Nacken. Alte Berichte … Sagen … Legenden …

„Und du meinst, das hängt alles irgendwie zusammen?“ Sie bereute es sofort, das gefragt zu haben. Maddox war jetzt endgültig verrückt geworden. Ein Nervenzusammenbruch. Genau wie damals. Er hatte sich von der Sache nie wirklich erholt. Er meinte seitdem, er hätte hinter den „Vorhang“ geblickt. Aber … Den Vorhang von was?!

„Tja, wenn es sich nicht um ein Familienunternehmen handelt, dann müssen wir wohl die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass hier jemand seit über fünfhundert Jahren rumschleicht, Mädchen entführt und sie dann … Ich weiß auch nicht … auf irgendetwas vorbereitet.“

„Auf irgendetwas vorbereitet?!“, echote Addison. „Ist das wieder eine deiner absonderlichen Theorien?“

„Das ist keine Theorie. Erinnere dich – das eine Mädchen, das nicht weit von hier gefunden wurde, wirkte auffallend gepflegt. Sauber. Ihre Haut war makellos.“

„Ja! So etwas hab ich schon gesehen! Manche Kerle haben die seltsamsten Vorlieben … Aber so lange? Über Generationen? Das ist unmöglich. Ich glaube nicht an so einen Unsinn.“

„Ich hielt es auch für Unsinn. Daher habe ich mir auch die Fälle vermisster junger Männer angesehen. In allen Fällen waren es Männer, die eine Verbindung zu den vermissten Frauen hatten. Brüder. Freunde. Liebhaber. Sogar Ehemänner. Und jetzt sieh dir an, wo diese zuletzt gesehen wurden.“

Maddox hielt ihr einen zweiten Ausdruck unter die Nase.

Die blauen Punkte neben den roten ergaben einen perfekten Halbkreis.

„Wenn ich an eines nicht mehr glaube, dann sind es Zufälle“, nickte er. „Weißt du, wie man diese Straße hier im Volksmund früher noch nannte? ‚Die Straße der verlorenen Jungfrauen’.“

Addison schüttelte heftig den Kopf. „Lass uns zuerst mal die vier verschwundenen Mädchen finden. Hilfst du mir nun dabei oder nicht?“

„Hätte ich sonst volle zwei Wochen lang nachgeforscht, als du mich deswegen angerufen hast?! Seit ich hinter den Vorhang dieser Sache mit den verschwundenen Mädchen zu blicken begann, habe ich nicht mehr geschlafen.“ Er sog nervös an seiner Zigarette und dämpfte sie unter seinem Schuh aus.

„Und ich dachte, deine Affären hielten dich wach.“

„Ha, ha, sehr witzig … Ein Puzzleteil führte zum nächsten. Aber was soll’s?! Du glaubst mir ja sowieso nicht.“ Er rieb sich erschöpft die Schläfen.