NEUHEITEN: Der Mädchenjäger


Der Mädchenjäger -


„Es ist einfach nicht mehr dasselbe, Ike“, seufzte Orian und starrte über das nachtschwarze Wasser in Richtung Strand. Die Trommeln waren verstummt und die allerletzten Leichtkanus legten ab. Im spärlichen Schein der Sterne und der Mondsicheln funkelte das flammend rote Haar der maleyanischen Mädchen mit den Lichtern der entfernten Siedlung um die Wette. Vereinzelt hallte ihr Schluchzen über die sanften Wellen.

„Los, los, los, los, los! Tempo, Männer!“, klatschte Ike in die Hände und machte seinem Ärger mit einem unzufriedenen Laut Luft. Was für eine magere Beute. Schnell überflog er die Anzahl der Rotschöpfe. Lediglich dreißig bis vierzig Mädchen. Früher wären sie nicht mal ins Boot gestiegen für so einen erbärmlichen Fang.

„Ich weiß nicht, was mit den maleyanischen Mädchen los ist“, beschwerte sich Orian lachend und ließ seinen Blick kopfschüttelnd über das schwarze Deck der „Seegeist“ schweifen. Schluchzend und mit verängstigten blauen Augen sahen die leichtbekleideten Dinger zu ihnen auf. „Unsere Mädchen waren im selben Alter schon richtige Frauen, nicht wimmernde kleine Gören.“

Einige der Männer lachten. Das trieb den rothaarigen Mädchen nur noch mehr die Tränen ins Gesicht.

„Verstehe gar nicht, warum sie so jammern. Wir sind ja keine Unmenschen und haben noch für jede einen netten Schlafplatz gefunden.“

„Diese Küken“, seufzte Ike zustimmend. „Am liebsten würde ich sie zu ihren Eltern zurückschicken. Aber egal. Hier draußen werden sie schnell Frauen werden. War ja bis jetzt immer so.“

Orian nickte beipflichtend.

„Auf jeden Fall sind es zu wenige für den Markt“, fuhr Ike knurrend fort. „Wir brauchen mehr. Mindestens viermal so viele – fünfmal so viele, wenn wir einige als Beute für uns behalten und uns für immer zur Ruhe setzen wollen.“ Er bellte ein paar knappe Befehle in Richtung der Unterbootsführer. „Ausladen, Männer, und macht die ‚Schwimmschnapper’ fest. Wir holen sie später an Bord. Legt mal einen Zahn zu! Man könnte meinen, ihr habt noch nie ein Kanu gesteuert.“

Schnelligkeit und die Fähigkeit, wie der Blitz in der Dunkelheit zu verschwinden, waren die stärksten Waffen eines Mädchenjägers. Nicht die Ausdauer, sich mit den Maleyani stundenlang herumzuprügeln.

Die Männer, ein jeder von ihnen mit entschlossenen sturmblauen Augen und schmutzig blondem Dreitagesbart – eigentlich war es ein Dreimonatsbart, aber wer zählte schon so genau mit? – halfen den Mädchen an Bord. Dass die dünnen Kleidchen dieser hübschen Küken zerrissen waren und die Schöße und Brüste in die dunkle Nacht hinausblitzten, entging nicht einmal dem müdesten Seemann.

„Kannst du dich erinnern? Das war ein Bild, als alle die ‚alte Insel’ verließen“, sinnierte Orian und biss von einer überreifen Hartfaust ab. „Schiffe, so weit das Auge reichte. Und alle hatten nur ein Ziel – dieses Land hier. Und jetzt … Es ist einfach nicht mehr dasselbe.“

„Ich kann mich vor allem daran erinnern, wie wir stockbesoffen am anderen Ende Welt landeten“, lachte Ike. „Unser Ziel um zehntausend Meilen verfehlt.“

Orian gluckste und verschluckte sich beinahe an seiner Hartfaust.

Der letzte der Unterbootsführer kletterte aufs Deck.

„Alle zurück?“, knurrte Ike.

„Ja, Bootsführer, keine Verluste.“

„Und die Väter der Mädchen?“

„Allzu glücklich sahen sie nicht aus.“ Der bärtige Unterbootsführer machte mit einem mitleiderregenden Blick klar, dass es viele Tränen gegeben hatte. „Jedenfalls … Sie müssen etwas bemerkt haben. Einige Mädchen, von denen wir annehmen, dass sie da waren, hielten sich so gut versteckt, dass wir sie nicht finden konnten.“

Ike stieß eine Verwünschung aus.

„Ablegen!“

Schwitzend zogen die Seemänner den schweren Anker an Bord. Ike sah zum Strand zurück. Dort suchten einige Dorfbewohner mit Fackeln und Laternen alles ab in der Hoffnung, eines der Mädchen wiederzufinden. Irgendwann blieben sie stehen und starrten nur noch auf das Wasser.

„Volles Großsegel! Focksegel setzen! Ruder hart backbord! Kurs Nebelsuppe!“

Die Männer setzten sich in Bewegung, die schwarzen Segel entrollten sich knallend und die „Seegeist“ nahm Fahrt auf.

„Kurs liegt an!“

Der Bug der „Seegeist“ steuerte auf eine der lichtgrauen Nebelbänke zu. Eine Handvoll Seemänner kümmerte sich um die Mädchen und gaben ihnen etwas Wasser zu trinken.

„… vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig … Es sind sechsunddreißig, Bootsführer!“, rief einer der Unterbootsführer.

Ike stieß eine Verwünschung aus. Er hatte gehofft, dass es doch noch weit über vierzig wären.

Maleyanische Mädchen – mit flammend rotem Haar und himmelblauen Augen. Eine jede von ihnen schön wie ein vom Himmel gefallener Stern. Ihre Haut so hell, als hätten sie in flüssigem Mondlicht gebadet. Und Knospen klein und hart wie kandierte Beeren. Allein für den Anblick hatte es sich für jeden Milareini gelohnt, den langen Weg über das Meer zu wagen. Alle wollten so einen süßen Rotschopf bei sich zuhause im Bett warten sehen – mindestens einen, wenn nicht sogar zwei oder drei. Maleyanische Frauen waren zwar eifersüchtiger als milareinische, doch dann wiederum, war es nicht wirklich der Rede wert. Dafür waren sie treuer. Sie waren liebevolle Mütter, vorausschauende und kluge Gefährtinnen und dankbare Liebhaberinnen im Bett. Manche Männer hatten sogar mehr als fünf maleyanische Frauen – diese gaben aber zu, dass es auf Dauer anstrengend wurde, so viele Frauen verwöhnen und bei Laune halten zu müssen. Außerdem hatten dann bald mal die Frauen im Haus die Hosen an und entschieden, wo es lang ging und wofür das Geld ausgegeben wurde. Daher waren die meisten Männer bald wieder froh, auf Beutezug gehen zu können.

Ein Grinsen schlich sich auf Ikes Lippen.

„Wird Zeit, Pläne zu schmieden … Welche Orte stehen jetzt noch auf unserer Liste?“

„Der Osten ist komplett von den ‚Sohnessöhnen der ersten Stunde’ abgedeckt und an der Westküste tobt sich Felkem mit seinen Jungs aus.“ Orian entrollte eine Karte am Tisch und fuhr mit der Zeigefingerspitze die Bereiche ab. „Da wir um Tarna, Thalassa und die ‚Dritte Stadt’ einen Bogen machen müssen und Merlisade und Maleyastadt zu stark befestigt sind, bleiben nur noch eine Handvoll Ortschaften an der Küste. Kaum bessere Dörfer, die schon mehrmals abgegrast wurden.“ Er rieb sich die Hände. „Also – entweder dorthin oder wir riskieren einmal etwas und schippern den vierten Strom hinauf. Holen wir uns doch einfach eine der drei Siedlungen Kaldor, Sagan und Chaiya.“

Die Männer sahen erstaunt und hellhörig herüber.

„Verdammt riskant“, zischte Ike. „So weit den Strom ist noch keiner raufgefahren, um sich Mädchen zu holen. Und wenn sie unten den Sack zumachen, dann sitzen wir mit heruntergelassenen Hosen in der Falle.“

Orian lachte amüsiert. „Aber vielleicht ist genau das der Kniff. Dass wir die Nummer tatsächlich abziehen, damit rechnet keiner.“

„Also gut, aber wir gehen da nicht einfach so rein. Zuerst sehen wir uns das alles ganz genau an. Genau wie damals in ‚Uferperle’. Wie in den guten, alten Zeiten.“

Orian nickte. „Und welche der drei soll’s werden? Kaldor, Sagan oder Chaiya?“

Die Männer reckten ihre Köpfe, um nur ja nicht zu verpassen, wo es hinging.

Die „Seegeist“ tauchte in die Nebelwand ein und Ike genoss die frische nasse Luft in seinem Gesicht. Die abnehmenden Mondsicheln durchdrangen kaum die Wolken. Ein Lächeln erfasste seine Lippen.

„Chaiya … Und allein nur deswegen, weil mir der Name dieser großen Wanderin so gut gefällt …“

„Gut“, nickte Orian. „Dann soll’s Chaiya sein.“


2

Chaiya …

Arki griff in das Wasser des Dorfbrunnens und goss es sich über den Kopf. Angenehm kühl lief ihm das wohltuende Nass über das frisch rasierte Gesicht. Was für eine Wohltat, nachdem er den ganzen Morgen marschiert war.

Es war ein brütend heißer Tag. Die drei Sonnen knallten vom Himmel, als wollten sie Schwimmschnapper-Eier im Staub der Straße braten, dabei war es noch nicht mal Mittag. Dafür war die Aussicht umso schöner.

Chaiya war ein liebliches Städtchen inmitten weitläufiger Obstgärten und Gemüsefelder. Zarter Gesang drang aus den schmucken Anwesen. Drei junge Frauen mit leeren Obstkörben unter dem Arm gingen an ihm vorbei und starrten ihn mit offenem Mund an, als hätten sie noch nie einen Mann gesehen.

„Hallo“, rief er und grinste über das ganze Gesicht.

Die drei waren nicht nur jung, sondern auch besonders hübsch – typisch maleyanische Mädchen eben. Lange, schlanke Beine, fester, runder Po, geschmeidige Schultern und Kurven genau an den richtigen Stellen. Genau so, wie sie jeder Mann haben wollte.

Die drei erröteten mit ihrem flammenroten Haar um die Wette und wandten den Blick betont auffällig ab, aber nicht ohne selbst zu lächeln.

Auch mehrere Männer hielten in ihren Tätigkeiten inne. Der örtliche Schmied sah ihn erstaunt über seinen Amboss hinweg an und ein anderer, der gerade lachend seine Sense zum Ausbessern brachte, stolperte um ein Haar über seine eigenen Füße.

„Immer vorsichtig mit dem Ding“, rief Arki bestens gelaunt und wedelte mit dem Zeigefinger. „Sonst wirst du dir noch wehtun.“

Aufgeregt begannen die beiden zu tuscheln. Arki ließ sich davon jedoch nicht beirren und sah sich in den mit Arkadenhöfen gesäumten Straßen um. Besah die flach geneigten Dächer der prunkvollen Häuser mit ihren in sanften Erdfarbtönen gehaltenen Fassaden und nahm tief den Geruch auf, den man unweigerlich mit Heimat verband und der einem das Gefühl von zuhause gab.

„Heißer Tag heute, oder?“, grüßte er eine Handvoll Frauen, die gerade mit Wäscheaufhängen beschäftigt waren und allesamt überrascht herübersahen. Sie reagierten ähnlich wie die drei Mädchen vorhin. Nur, dass sie nicht wegsahen, sondern ihn abschätzend und kichernd musterten wie Damen, die die Vorzüge eines Mannes durchaus zu schätzen wussten. Er hob die Augenbrauen und zum Kichern mischte sich auch noch eine ordentliche Röte auf ihren Wangen.

Vor den größten Häusern am Platz blieb er stehen und stellte fest, dass von überall die Menschen heranströmten, um ihn zu betrachten.

Ein halbes Dutzend Halbjährige, die einen kleinen Stoffball über den Boden jagten, hörten mitten im Spiel auf und der Ball rollte unbeachtet ins Tor.

„Wie geht’s denn so, Jungs?“, rief Arki zwinkernd.

Die neugierigen Zwerge starrten ihn finster an. Sommersprossig, mit feuerroten Haaren und jede Menge Zahnlücken. Fünf Racker und ein Mädchen, das ganz offensichtlich keine Lust hatte, mit Puppen zu spielen, und sich lieber mit Jungs balgte.

„Hey, Milareini!“, rief der Größte von ihnen und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist ganz schön weit weg von zuhause, Seemann. Aber diesmal hast du dir eindeutig den falschen Hafen ausgesucht. Unsere Frauen bekommst du nicht!“ An der Spitze der Rasselbande kam er herangeschritten.

„Was?!“, lachte Arki. „Ihr kleine Kerle habt schon Frauen?“ Der Knirps reichte ihm gerade mal bis zum Bauchnabel!

„Er will unsere Mädchen stehlen“, rief der Zweitgrößte. „Auf ihn!“

„Attacke!!!“

Mit Gebrüll stürmten die fünf Racker und das Mädchen heran und umringten ihn. Traten mit Füßen auf ihn ein und schlugen mit Fäusten gegen ihn. Ohne wirklichen Schaden anzurichten. Ein paar Treffer jedoch reichten für blauen Flecken.

„Schon gut, schon gut, Jungs.“ Er hob die Hände. „Chaiya gewinnt diese Schlacht!“

Mächtig großer Fehler. Einer der kleinen Racker versuchte tatsächlich, ihm in den Schritt zu boxen.

Heilige …

Autsch!!

Arki wich nach hinten aus und stolperte über den Kleinsten der Rasselbande. Riss ihn unbeabsichtigt mit sich. Noch im Fall versuchte er den Kopf des Kleinen zu schützen. Dieser begann zu flennen und sofort war die ganze Meute auf ihm.

Arki konnte sich kaum wehren vor Lachen. „Leute, ihr habt gewonnen. Ich ergebe mich!“

Doch an einer Kapitulation waren die kleinen Racker nicht interessiert. Das Mädchen trommelte mit ihren zierlichen Fäusten auf sein Gesicht ein.

„Unsere Frauen bekommst du nicht, Mistkerl“, rief sie.

Das glaubte er der Kleinen sofort. Die Anzahl der Schläge reichte aus, Sterne zu sehen. Aber so weit wollte er es nicht kommen lassen. Er kämpfte sich hoch und streckte die Knie durch. Die Knirpse hingen wie Kletten an ihm. Mit zwei der Racker in den Armen, einen um seinen Hals und einem Knurren auf den Lippen stand er auf.

„Jeb! Jeb, wirst du wohl aufhören?!“, lief eine junge Mutter heran und zerrte ihren Sohn weg. „Was soll denn das?“

„Was ist denn hier los?!“, polterte eine tiefe Stimme und ein etwas dickerer, älterer Herr mit leicht angegrautem Haaransatz stapfte heran.

Arki stellte die beiden Bürschchen unter dem Arm sanft auf den Boden. Die Knirpse riefen aufgeregt durcheinander, bezichtigten ihn ein „Mädchenjäger“ zu sein und ließen nur widerwillig von ihm ab. Andere versteckten sich hinter den Rockzipfeln ihrer Mütter und warfen ihm finstere Blicke zu.

„Seid Ihr der Ortsvorsteher?“, erkundigte sich Arki.

„Ja“, knurrte der Alte misstrauisch und musterte ihn mit seinen blauen Augen. „Und wer seid Ihr?“

Arki grinste und leckte sich über die geschwollene Lippe. „Offenbar nicht wirklich erwünscht, schätze ich mal … Hast eine echt fiese Rechte, Kleine.“ Er zwinkerte dem Mädchen zu. Offensichtlich hatte er vorhin doch etwas abbekommen. Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht, nur um gleich wieder bitterböse zu schauen – was sie jedoch nicht lange durchhielt. Einige Leute lachten.

„Ich heiße Arki. Meine Mutter stammt aus Tarna. Und mein Vater … nun, sagen wir, es gibt ihn.“ Er grinste breit. „Den Namen habe ich mir übrigens nicht selbst ausgesucht. Aber ich kann gut mit ihm leben.“

Die Leute sahen ihn schmunzelnd an, als wüssten sie nicht, ob sie ihn umarmen oder fortjagen sollten. Irgendwie kam er sich gerade wie der lang verschollene und etwas wunderliche Onkel vor, der eines Tages unverhofft wieder auftauchte, nachdem keiner mehr mit ihm gerechnet hatte.

Nickend beobachteten ihn alle und tuschelten.

„Alles klar, Leute, geht wieder an die Arbeit!“, feldwebelte der Alte. „Hier gibt es nichts zu sehen.“

Die Menge zerstreute sich murmelnd und jeder ging wieder seinem Tagwerk nach. Arki sah den Frauen und ihren schwingenden Hüften hinterher. Und da waren auch die drei süßen Kleidchen von vorhin wieder mit ihren Obstkörben. Die Körbe waren nicht das Einzige, was prall gefüllt war. Sie verschwanden im Tor zum größten Haus, aber nicht ohne ihm noch einen ausgiebigen Blick zuzuwerfen.

„Ihr müsst entschuldigen“, seufzte der Ortsvorsteher. „Das hier ist nicht Merlisade, Thalassa oder Tarna. Wir bekommen hier draußen nicht viel Besuch und wenn, sind es nur raffgierige Händler oder anhängliche Verwandte aus der Stadt.“

„Ich wurde anständig begrüßt“, zuckte Arki mit den Schultern und grinste.

„Seid Ihr wirklich, Milareini?“ Der Alte legte den Kopf schief und sein Kiefer arbeitete.

„Was hat mich verraten?“, lachte Arki. „Meine gebräunte Haut oder mein blondes Haar? Die blauen Augen können es nicht gewesen sein … Ahh, die Größe würde ich sagen.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über die Lippen des Alten und er legte seinen Arm um das kleine Mädchen, das ihm gehörig den Arsch – den er Gesicht nannte – versohlt hatte. Neugierig betrachtete sie ihn.

„Was wollt Ihr hier, Arki? Ihr werdet mir doch keinen Ärger machen, oder?“

Arki ließ seinen Blick über das Städtchen schweifen.

„Der Ärger findet einen in den meisten Fällen ganz von selbst. Nur Narren suchen ihn … Ich werde nicht lange hier in Eurer schönen Stadt bleiben, versprochen. Ich fülle nur meine Vorräte auf und bin dann wieder weg.“ Er klopfte auf seine gähnend leere Tasche. Ein paar Kupfermünzen klimperten darin.

„Wo wolltet Ihr hin?“

„Nach Westen … Hinauf in die Berge … Mal sehen, was sich ergibt. Ich weiß es noch nicht.“

Der Alte kratzte sich am schütter werdenden Haaransatz seines Hinterkopfs. „Das ist keine gute Idee, mein Freund. Da draußen wimmelt es nur so von Truppen des dunklen Inseleroberers. Ihre Patrouillen sind überall. Sie kontrollieren die alten Pässe zu den Eisenbergen. Und es heißt, dass sie zuerst zuschlagen und erst dann die Fragen stellen.“

Arki nickte und setzte an zu gehen. „Danke für die Warnung.“ Er zwinkerte der Kleinen zum Abschied zu. „Mach’s gut, Krümelchen. Und lass dir von den Jungs nichts gefallen, hörst du?“ Er hielt ihr die Faust für einen „Faustgruß“ hin. Ganz offensichtlich kannte sie diesen Brauch nicht. „Komm schon, das funktioniert nur, wenn du mit deiner dagegen klopfst.“

Die Kleine vollendete die Verabschiedung und himmelte ihn an.

Der Alte überlegte und schnalzte mit der Zunge.

„Wartet! Ich werde es höchstwahrscheinlich bereuen, aber Ihr könnt heute Nacht hier bleiben. Vielleicht seid Ihr ja … an Arbeit interessiert.“

„Arbeit?!“ Arki nickte erfreut. „Oh ja, das wäre toll.“

„Gut, dann versuchen wir es.“ Der Alte hob den Zeigefinger. „Aber nur versuchen! Denn Nasenbohrer beschäftige ich schon genug.“


3

„Seht euch seine Muskeln an“, wehte das Flüstern eines Mädchens herüber. „Sieht er nicht total heiß aus?“

Heiß? Der Schweiß lief ihm gerade in Strömen den nackten Oberkörper hinab! Heiß war gar kein Ausdruck.

Arki wuchtete den kaputten Wagen hoch und schob mit dem Fuß eine Kiste darunter, die unter dem Gewicht verdächtig knirschte. Ewig würde sie das Gewicht nicht tragen, aber das musste sie zum Glück auch nicht. Sie musste nur halten, bis er die gebrochene Achse ausgewechselt und das Rad wieder montiert hatte.

„Wie die Muskeln sich unter seiner Haut spannen … Was für ein Kerl!“

„Ich mag, wie der Schweiß auf seiner Haut glänzt.“

„Ich hoffe, er macht mal eine Pause.“

Er wandte den Kopf und da standen sie am Zaun – vier der sieben Töchter seines neuen Arbeitgebers und mit jedem neuen Herzschlag kam eine dazu. Er hatte fast nicht glauben können, dass der Ortsvorsteher sieben Töchter hatte. Fleißig, ließ sich dazu nur sagen.

„Au backe, er guckt her.“

Arki sah mehr die Lippenbewegung, als dass er die Worte wirklich hörte. Aber an der Art, wie sie alle wegsahen, war auch so klar, was gerade in ihnen vorging. Nur „Krümelchen“ strahlte über das ganze Gesicht und winkte ihm zu. Natürlich hieß sie nicht so, aber ihren echten Namen hatte er noch nicht mitbekommen.

„Geht’s dir gut, Krümel?“, grüßte er zurück.

„Ja“, nickte die Kleine eifrig.

„Bestens. So soll es ja auch sein, oder?!“ Mit einem Grinsen lockerte er unter Zuhilfenahme eines Holzhammers die Achsenteile, die sich festgeklemmt hatten.

Die anderen Mädchen, inzwischen sechs an der Zahl, kicherten und sahen sich an.

„Was tut ihr denn alle hier?“, tadelte die älteste Schwester sie. „Ma wird schimpfen. Habt ihr alle eure Arbeiten erledigt?“

„Noch nicht so ganz …“

„Eigentlich …“

„Im Grunde …“

„Wir wollten gerade …“

„Dann los jetzt!!“, herrschte die Älteste die anderen an und bedachte Arki mit einem vorwurfsvollen Blick. Oh Mann. Wenn Blicke töten könnten …

Sich räuspernd riss er die Achse aus ihrer Verankerung. Nur gut, dass er genug zu tun hatte und sich nicht weiter mit ihr beschäftigen musste. Die sieben Töchter des Ortsvorstehers – von „Krümelchen“ angefangen bis zur ältesten Tochter, die selbst schon drei halbjährige Kinder hatte –, zogen eine nach der anderen hintereinander wie Tarnische Orgelpfeifen von dannen.

„Arki, wir essen dann gleich. Ihr seid herzlich eingeladen.“

Arki hob den Kopf. Die älteste Schwester war bereits gegangen, doch jemand der haargleich, wie sie aussah, stand dort – nur ein wenig älter.

Arki errötete und kam sich mit einem Mal wirklich nackt vor. Das war die Mutter der Mädchen – die Herrin des Hauses und die Frau des Ortsvorstehers. Sie schattete ihre Augen vor der Sonnenglut ab und ein wissendes Lächeln huschte über ihre Lippen.

„Oh …“, kam es ihm über die Lippen. „Ist schon in Ordnung. Ich bin ganz schmutzig und verschwitzt. Außerdem habe ich kein frisches Hemd und … Ich habe dem Ortsvorsteher versprochen, dass er mit dem Wagen am frühen Nachmittag rechnen kann.“

„Gegen den Schmutz und den Schweiß kann man doch sicherlich etwas machen“, meinte sie. „Ein Hemd wird sich sicher auch finden lassen. Und der Wagen war jetzt schon so lange kaputt, da machen ein paar Stunden auch nichts mehr aus …“

Geschlagen nickte er. „Ich werde da sein“, versprach er und machte sich daran, seine Aufgabe zu erledigen. Zum Glück hatte er im Schuppen eine Reserveachse gefunden. Verstaubt, wie sie war, lag sie dort wohl schon ewig herum. Im Nu hatte er sie montiert und konnte das Rad wieder einhängen und mit ein paar gezielten Schlägen befestigen. Fast war er ein bisschen stolz, als er den Wagen wieder voll funktionsfähig da stehen sah, aber er hatte keine Zeit, sich lange an seinem Erfolg zu ergötzen. Die Essenglocke wurde geschlagen. Beschwingt tauchte er den Kopf und den Oberkörper in den Waschtrog und schüttelte sein langes Haar aus. Herrlich.

Die Frau des Ortsvorstehers hatte ihm ein blaues Hemd bereitgelegt, das gut zu seiner Lederhose passte, und er streifte es über. Neu angekleidet trat er an den gedeckten Tisch auf der Terrasse. Die Mädchen saßen bereits alle auf den Bänken und strahlten ihn an. Zumindest größtenteils. Marima war die Älteste – ihre drei Sprösslinge, belagerten allesamt den „Kindertisch“ und … Moment! Waren das nicht die kleinen Racker vom Fußballspiel heute Morgen? Sondra war die Zweitälteste, noch unverlobt, sofern er das richtig mitbekommen hatte, und danach kamen die atemberaubende Elex, die entzückende Yana und die freche Aryia – die drei heißen Dinger mit ihren prallen Obstkörben –, gefolgt von der frühreifen Taela und natürlich „Krümelchen“.

„Arki kann bei mir sitzen“, bot die Kleine gleich eifrig an.

„Ach, Schatz“, winkte die Herrin des Hauses ab und zwinkerte. „Er sitzt natürlich gegenüber von Sondra.“

„Ma!“, beschwerte sich Sondra und Arki konnte es ihr nicht mal verübeln. Nach altem Brauch saßen sich nur verlobte oder verheiratete Pärchen gegenüber. Zumindest am Mittagstisch. Abends war das wieder eine komplett andere Sache. Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, konnte Sondra sich nicht vorstellen, mit ihm verlobt zu sein. Denn sie verzog den Mund, als hätte sie in eine saure Hartfaust gebissen.

„Macht mal Platz für unseren Gast, Kinder“, ordnete Sondras Mutter an und Elex und Yana rutschten nur liebend gern zur Seite. Kichernd sahen sie zu, wie er sich zwischen sie setzte. Aryia, die auf der anderen Tischseite saß, zog einen eifersüchtigen Schmollmund.

„So viel holde Weiblichkeit bin ich gar nicht gewohnt“, verkündete Arki und atmete tief durch. Und das war nicht nur so dahergesagt. Eine war wirklich hübscher als die andere.

„An einem Tisch zu sitzen, wahrscheinlich auch nicht, oder?!“, ätzte Marima. „Sitzt ihr Milareini nicht normalerweise nackt am Boden und esst mit den Händen?“

„Marima“, schalt ihre Mutter sie.

Arki rutschte ein Lachen heraus. „Ich nehme mal an, ja. So genau weiß ich das nicht. Ich komme nicht von der ‚alten Insel’.“

„Ich finde das sooo romantisch“, seufzte die frühreife Taela und klimperte ihn mit ihren langen Wimpern an. „Exotische Inseln … Durchsichtig klares Meerwasser … Abenteuer …“

„Warte nur, bis die ‚Mädchenjäger’ dich holen kommen“, zischte Sondra, die sich noch immer darüber ärgerte, dass ihre Mutter ihn ihr gegenüber hingesetzt hatte. „Dann findest du das gleich nicht mehr so ‚romantisch’.“ Sie spie das letzte Wort abfällig wie einen Fluch aus.

Krümelchen griff nach dem Brot und bekam es umgehend von ihrer Mutter zu hören. „Du wartest, bis Vater hier ist, Talia.“

„Aber Ma, Paps kommt doch immer zu spät zum Essen“, beschwerte sich Krümelchen-Talia und schielte neidvoll hinüber zum Kindertisch, wo Jeb und die Zwillinge schon fleißig die Vorspeise auf das Tischtuch kleckerten.

Arki sah zum leeren Kopfende des Tisches und blickte unbeabsichtigt in Yanas himmelblaue Augen. Sie funkelten wie die versprochenen Edelsteine aus dem „Lied des Kemilaren“. Und ihr Lächeln … Oh Mann – es reichte definitiv aus, um auf andere Gedanken zu kommen. Er zwinkerte ihr zu und musste sich zwingen, nicht wie ein Idiot zu grinsen.

„Ich sehe gerade, dass noch jemand fehlt“, räusperte er sich. „Oder?“ Er nickte in Richtung des leeren Sitzplatzes gegenüber von Marima.

„Ja, Ewari ist nicht hier“, bestätigte ihre Mutter.

„Ja, weil er in der maleyanischen Armee dient“, versetzte Marima verbittert. „Er kämpft gegen deinesgleichen und alle anderen, die gekommen sind, uns unser Land zu stehlen und uns Frauen zu rauben. Gäbe es euch Milareini nicht. Wäre er jetzt bei mir!“

„Marima“, seufzte ihre Mutter.

Arki nickte. „Tut mir leid zu hören. Ist sicher nicht einfach.“