Die Kemerelle Saga: Für Die Zucht Des Schwarzen Gottes


Für Die Zucht Des Schwarzen Gottes -


1

Es hieß, der schwarze Turm von Almarkaz hätte schon immer hier gestanden und wäre so alt wie die Menschheit selbst.

Taya atmete durch und zog sich ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Dieser Turm schaffte es doch immer wieder, dass sich jedes Härchen auf ihren Armen und Beinen aufstellte und sie eine schaurige Gänsehaut erfasste. Dabei … Es war nur ein Turm, ein Bauwerk aus verwittertem Stein – daran war nichts Ungewöhnliches, nichts Geheimnisvolles und schon gar nichts Übernatürliches. Zumindest versuchte sie, sich das einzureden … Denn in keiner einzigen anderen Stadt gab es etwas Vergleichbares wie diese dunkle, böse Monströsität, die sich in den Himmel streckte. In keiner Stadt Jomdahs, nicht in den Ländern der Anjous, in keiner Siedlung bis zu den „Tälern der Morgenröte“.

Taya schlich auf Zehenspitzen von Schatten zu Schatten zwischen den eng stehenden Holzhäusern, von einer Gasse zur nächsten. Bleiern hingen über ihr die beiden Halbmonde am Himmel. Hinter tintenschwarzen Wolken in pechiger Dunkelheit. Niemand halbwegs bei Verstand ließ sich sehen. Mitternacht war die Stunde der Diebe und der Verlorenen. Und sie hatte nicht vor, zu Letzteren zu gehören, sondern zu Ersteren.

In diese Ecke der Stadt verirrte sich nie ein Nachtwächter. Zwielichtige Gestalten dafür umso mehr. Hier wurde mit verbotenen Dingen gehandelt. Hier fanden jene Geschäfte statt, die nicht von den Behörden gesehen werden sollten. Und hier versteckten sich jene, die es mit dem Leben bezahlten, offen ihr Gesicht zu zeigen.

Ein wütender Fluch ließ sie in den Schatten zurückweichen. Keinen Herzschlag zu früh. Ein zerlumpter Kerl mit lahmem Bein hetzte an ihr vorbei. Verfolgt von einem anderen mit gezogenem Kurzschwert. Die schlanke Klinge blitzte im Licht der Monde auf. Taya wartete drei Atemzüge. Von zwei Gassen weiter erklang der Schrei des Flüchtenden. Vermutlich sein letzter. Niemand von den wenigen anderen Gestalten in den Straßen ließ sich davon stören.

Es war Zeit, sich auf den Dächern weiterzubewegen.

Geräuschlos schwang sich Taya auf eine verrottete Holzkiste und zog sich von dort den niedrigen Balkon hinauf. Vom Geländer ging es über die Traufen hinauf aufs Dach. Mit vorsichtigen Schritten bewegte sie sich über die Holzschindeln zum Giebelfirst und von dort immer weiter. Das Gekicher leichter Mädchen und das geistlose Geschwätz angetrunkener Freier hallten die Stockwerke herauf. Taya hielt sich damit nicht auf. Lautlos übersprang sie die engen Gässchen und ihr Atem beschleunigte sich. Gebieterisch thronte der schwarze Turm über der unwirklichen Szenerie. Zwar erhoben sich viele Bauwerke in der Stadt über die Häuser des gemeinen Volks – das größte war zweifellos der Königspalast am einzigen Hügel im Ostteil, nur herausgefordert vom Prunkbau eines alten Adelsgeschlechts, das nur als die „Goldfürsten“ bekannt war, genau im Zentrum der Stadt – der drittgrößte Turm war jedoch der, über den niemand sprach, der aber allen Fremden bei ihrem ersten Besuch in dieser Stadt sofort ins Auge fiel und noch jedem ein Gefühl von Unbehagen vermittelte. Allein schon wegen seiner düsteren Farbe. Der „schwarze Turm“. Es gab ihn. Jeder wusste es, aber keiner wollte über ihn sprechen, geschweige denn ihn ansehen. Etwas Unheimliches entströmte den uralten Mauern.

Taya erschauderte, blieb seufzend am Rand des Dachs des letzten Hauses stehen und ging in die Hocke. Was zum Teufel tat sie hier nur? Ein übler Geruch entströmte den von Wind und Regen gepeinigten Steinquadern. Grauschwarze Nachtschweber hingen zu Dutzenden oben in den Erkern. Ihr ekelhaft riechender Kot glänzte weiß und schmutzig auf dem Pflaster. Niemand machte sich die Mühe, ihn wegzuräumen. Jeder, der die Straßen und Gassen zu ihren Füßen benutzte, wollte nur möglichst schnell wieder von hier weg. Sie sprachen und lachten, um dann mitten im Satz seufzend abzubrechen und in eine andere Richtung zu schauen. Vielleicht weil in der Gegend um den Turm schon zu viele Menschen spurlos verschwunden waren … Vielleicht deshalb sahen die Bewohner der Stadt den Turm nie an.

Hätte sie sich kein anderes Ziel suchen können? Den Königspalast? Die Schatzkammer der Goldfürsten? Tja, der Königspalast war viel zu streng bewacht und was die Schatzkammern der Goldfürsten betraf … Von dort war noch nie jemand lebend zurückgekehrt. Die verzerrten, vom Wahnsinn gezeichneten Gesichter derjenigen, die es nicht zurückgeschafft hatten, bewiesen, dass es Schicksale grausamer als den Tod gab. Nein, dieser Turm – der schwarze Turm – war ihre beste Chance.

Angeblich waren einhundert Schritte notwendig, um ihn zu umrunden. Es führte kein Eingang hinein – nicht dass sie wusste. Auch nicht auf der Rückseite. Aber welche Aipak, die etwas auf sich hielt, brauchte schon eine Tür, nicht wahr? Vielleicht hatte es früher einmal einen Zugang gegeben, aber jetzt war keiner mehr zu sehen. Entweder war er fein säuberlich zugemauert worden oder hinter Unrat versteckt oder zugewachsen. Oder vielleicht irgendwo unter der Straße … Es war so seltsam. Man hatte das Bild des Turms genau im Kopf, seine kreisrunde Bauweise, seine Höhe, die Ausbuchtungen, die wie Schießscharten anmutenden, hohen Spitzfenster … doch, wenn man vor ihm stand, schien er sich jedes Mal auf magische Weise verwandelt zu haben. Als hätte er ganz langsam seine Erscheinung verändert. Jedes Mal wurde ein neues Detail offenbar, das es letztes Mal – man hätte darauf schwören können – nicht gegeben hatte. Nur eine Sache war geblieben. Die Schlingpflanzen, die in den Spalten zwischen Pflaster und Mauern prächtig gediehen und sich entlang der Ritzen der Steinquader nach oben wanden. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatten sie nur halb so hoch gereicht. Doch jetzt waren mindestens drei der fünf niedersten Fenster erreichbar. Dort, wo die strahlend gelben Blüten der Ranken blühten …

Kettenhemden klirrten. Taya wich in die Deckung zurück. Wütende Schreie erklangen. Metall schlug gegen Metall.

„Im Namen des Königs! Stehenbleiben!“

Taya spähte hinab. Ein halbes Dutzend Stadtwachen verfolgte insgesamt drei oder vier Flüchtende, die in alle Richtungen auseinanderstoben. Üble Gesellen. Einer schaffte es gerade mal bis zur nächsten Querstraße. Es folgte ein Schrei und einen Kopf kürzer brach er zusammen.

„Durchsucht jedes Haus“, knarrte die tiefe Stimme eines Offiziers der Stadtwachen durch das Dunkel. „Vom Keller bis zum Dach – und bringt sie mir tot! Ich will ihre Köpfe, verstanden?!“

„Ja, Herr!“

Taya blickte hinab. Zwei Männer drangen durch die Tür in das menschenleere Haus ein und sie hatte keine Lust, in diese Sache mit hineingezogen zu werden. Diese Typen stachen zuerst zu und stellten dann die Fragen. Die alten Holzstiegen knarrten unter dem Gewicht der schwerbewaffneten Stadtwächter.

„Ich überprüfe das Dach.“

Tayas Atem beschleunigte sich. Ihr Herz klopfte. Höchste Zeit, abzuhauen.

Sie bewegte sich am First zurück und nahm Anlauf.

„Ich höre etwas! Einer der Brüder ist hier!“

„Das ist kein Kerl! Schnappt euch den geilen Weiberarsch!!“

Weiberarsch??

Taya machte eine Rolle, lief, was ihre schlanken Beine hergaben, und sprang. Sprang die eineinhalb Mannslängen hinüber zum Turm. Ihre Hände bekamen die Ranken zu fassen. Dem großen Wanderer sei Dank hielten sie ihr Gewicht. Und gut, dass sie Handschuhe anhatte. Die eine oder andere Dorne hätte sonst sicher ihre Handflächen zerkratzt. Zum Teufel! Eine der Dornen war tatsächlich durch das Leder ihres Handschuhs gedrungen. Die Stelle pochte wie eine schwärende Wunde …

„Wo ist das Weibsstück hin?“ Ein wütender Wächter schwenkte eine Fackel und versuchte, jeden Winkel des Daches auszuleuchten. Taya drängte sich näher an die Ranken. Hoffte, dass das schwarze Leder ihres Gewands nahtlos mit der Dunkelheit verschmolz. Wenn sie Glück hatte, blendete der Typ mit der Fackel sich nur selbst. Wie hatte man sie nur entdecken können? War sie wirklich so unvorsichtig gewesen?

Taya sah ihm mit halb abgewandtem Gesicht aus den Augenwinkeln zu, wie dieser pingelig jedes noch so kleine mögliche Versteck absuchte.

„Sie muss über die Dächer gelaufen sein. Na warte, die kleine Hure kriege ich!“

Bestens. Er begann, sie in der völlig falschen Richtung zu suchen. Sie atmete durch und kletterte so geräuschlos wie möglich nach oben. Sie wollte nicht mehr da sein, wenn die Wächter auf die Idee kamen, noch andere Fluchtwege in Betracht zu ziehen. Der modrige Ekelgestank der bröckeligen Mauern drang tief in ihre Nase und ihre Kleider. Es roch nach Tod. Vorsichtig arbeitete sie sich hinauf. Immer darauf bedacht, dass die Ranken der Pflanzen unter ihrem Gewicht nachgeben könnten. Doch da bestand kein Grund zur Sorge. Die Jahre hatten ihren Halt nur noch gefestigt. Taya zog sich hoch und setzte sich auf eine Ausbuchtung aus Stein, die gerade mal groß genug für ihren „geilen Weiberarsch“ war. Sie sah nach hinten. So „geil“ kam ihr ihr Po gar nicht vor. Jede Jomdahnerin hatte einen größeren. Aber er war straff und fest, wie der einer jeden Zirkuskünstlerin.

Sie atmete tief durch und wischte sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. Soweit wie jetzt war sie schon einmal gewesen. Vor einigen Doppelmonden. Da hatte ihr Vater bereits hier auf sie gewartet. Er hatte gewusst, dass sie schon als kleines Mädchen immer davon geträumt hatte, den Turm hochzuklettern und ihm alle Geheimnisse zu entreißen. Alle Schätze … Da hatte er sie aufgehalten, gerade als sie versuchte, eines der Fenster zu erreichen. Er hatte gesagt, der Turm wäre nicht ohne Grund schwarz. Dass die Mauern so dunkel wären, wie sein Inneres böse. Und er hatte sie angesehen, als wüsste er mehr als das, worüber er reden wollte. Doch jetzt … Er war vor zwei Doppelmonden gestorben und sie war jetzt die Herrin über ihr eigenes Schicksal – über den Weg, der vor ihr lag. Und sie war jetzt für ihre Leute verantwortlich.